Der soziale Staat

Soziale Gesundheit

Kann man einen Staat als reich bezeichnen, in dem es kein Erbarmen mit armen Menschen gibt?
Christus hat gesagt: "Was ihr dem geringsten meiner Brüder antut, das tut ihr mir an." Ich gehe noch weiter. Der Umgang eines Menschen mit seinen Mitmenschen gibt ein Bild seines Umgangs mit sich selber ab: "Was ihr dem geringsten eurer Brüder antut, das tut ihr euch selbst an." Menschen, die besonders hart über andere urteilen, gehen nicht selten mit sich selber in gleicher Weise hart um. In einer Gesellschaft, die die Schwachen und Armen ausgrenzt und somit auch implizit verachtet, können Menschen, die sich mit dem Wertesystem dieser Gesellschaft identifizieren, ihr eigenes Selbstbewusstsein nur auf ihre Leistung stützen und erleiden bei Krisen in der Arbeit existenzielle Ängste. Das Selbstbewusstsein ist somit an das Funktionieren der sozialen Kontakte gekoppelt und im Umkehrschluss ist Anpassung an die Erwartungen der Gesellschaft die naheliegendste Verhaltensweise im Streben um Anerkennung und zur Stärkung des Selbstwertgefühls.

Ausgrenzung sozial schwacher hat für einen Staat fatale Folgen:

  • Der Anpassungsdruck schafft Lenkbarkeit und verringert die Eigenverantwortlichkeit auch der Stärkeren Bürger. In der Folge fehlt die Wachsamkeit für Rechtsstaatlichkeit und die Gefahr des Extremismus steigt.
  • In sozial schwachen Gegenden wächst Kriminalität und Gewalt. Die ausgrenzende Haltung gegen arme Bürger scheint sich zu bestätigen und die Härte erneut nimmt zu. Dieser Selbstverstärkungseffekt erhöht die Anfälligkeit für Extremismus und die Hilflosigkeit gegenüber korrupten Regimen.
  • Sozialer Abstieg ist ein Prozess, der zu seiner Umkehrung oft größeren Aufwand bedarf. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist somit die Zunahme der Zahl von Menschen, die sich nicht mehr aktiv an der Gemeinschaft beteiligen ein irreversibler Prozess
  • Verarmung ist ein Prozess, der die gesamte Gesellschaft schwächt und sich selber dadurch verstärkt.

Arbeitslosigkeit und Selbständigkeit

Was ist das eigentlich, "Arbeitslosigkeit"? Ich will im Folgenden auf keinen Fall die Not der von Arbeitslosigkeit betroffenen anzweifeln oder ihnen irgendwelche Versäumnisse vorwerfen. Ich will auch nicht die faktische Chancenlosigkeit der Personen, die davon betroffen sind, leugnen und auch nicht das schwerwiegende gesellschaftliche Problem, das sich damit verbindet. Ich werde etwas später noch einmal auf die unverrückbaren Probleme zurückkommen. Aber zunächst will ich etwas vereinfacht und hoffentlich entlarvend darstellen, was für ein seltsamer Zustand "Arbeitslosigkeit" ist:

Stellen Sie sich vor, ein Vogel wacht eines Morgens auf und stellt voll Schrecken fest, dass ihm heute niemand erzählt, was er zu tun hätte. Ab heute sei er "arbeitslos" sagen seine Freunde. Er sei gekündigt - Eine absurde Vorstellung, denn unser Vogel lebt eigenverantwortlich Er weiß selber, was er zu tun hat. Er sorgt für sein Leben. Er arbeitet und bestimmt selber, was er arbeitet. Natürlich benötigt er zum Sammeln von Körnern keine anderen Vögel. Auch findet er keine Landschaft vor, die gemeinschaftlich geregelt in Grundstücke aufgeteilt ist, in denen er picken kann, oder auch nicht, wenn er kein solches Grundstück besitzt (obwohl: Die Aufteilung von Revieren ist im Tierreich auch bekannt). Aber bei den Ameisen beispielsweise ist mir das Phänomen der "Arbeitslosigkeit ebensowenig bekannt, obwohl sie eine hochkomplexe soziale Organisation aufweisen. Das Phänomen der Ausgrenzung von Alten ist aber bei den Löwen meineswissens bekannt. Diese alten "Rentner" ohne Rentenversicherung könnten also ein Beispiel aus der Natur für unsere Nöte und sozialen Ängste sein.

Dennoch bleibt bei mir eine gewisse Verwunderung, denn viele Arbeitslose sind kerngesunde starke Menschen mit vielen Freunden, deren Kraft gerade an der Stelle, an der sie sich befanden nicht gebraucht wurde. Die Ausgrenzung nach dem Prinzip "Arbeitslosigkeit" folgt selten den Fähigkeiten einer Person und noch nicht einmal der mangelnden Wertschätzung einer gefühlsharten sozialen Umgebung. Verwundert bin ich auch über die Selbstverständlichkeit, mit der die betroffenen "Arbeitslosen" sich in ihr bislang, wenn auch magerer bezahltes Schicksal ergeben und wie wenig Ausgleich zwischen dem eklatanten Arbeitskräftemangel (wohlgemerkt: nicht Arbeitsstellenmangel) vielerorts, in Altenheimen, in der Jugendarbeit, in der Krankenpflege, etc. stattfindet. Natürlich kann ein arbeitsloser Mensch nicht satt werden von unentlohnten sozialen Tätigkeiten. Auch wird ein krankes Sozialsystem nicht gesunder, in dem die Gesellschaft die fürsorglichen Tätigkeiten gering geschätzt, wenn Ehrenamtliche sich dorthin begeben, wo ausgebeutet wird. Aber auch in der Landwirtschaft, wo die Selbstständigkeit existenziell möglich ist, findet eine große Landflucht immer noch statt. Natürlich auch dort, weil die Arbeit der Bauern zunehmend gering bewertet und somit entlohnt wird. Aber dieser Zustand ist nicht selbstverständlich und der Begriff Arbeitslosigkeit ist relativ neu.

Wir erleben derzeit einen massiven Trend zur Unselbständigkeit. Begonnen hat dieser Trend mit der Industrialisierung. Verbunden ist er aber ausgerechnet auch mit den Errungenschaft des Sozialstaates. Aufgaben, die bis dahin kleinen Gemeinschaften überlassen waren, nämlich den Familien, den Gemeinden und handwerklichen Betrieben, gingen an immer größere Firmen mit immer anonymeren Beziehungen der Arbeiter zu deren Besitzern über und gleichzeitig wurden familiäre Aufgaben an den Staat übertragen. Zum Beispiel die Altenfürsorge und die Arbeitslosenunterstützung. Dieser Prozess ist kaum umkehrbar. Aber die Verunselbständigung ergreift andere Bereiche: Die Zahl der Unternehmer nimmt rapide ab. Die Zahl der Selbständigen ebenso. An deren Stelle kommen Franchise-Nehmer und Ich-AG-s. Und Konzerne, deren tatsächliche Eigentümer für uns nicht mehr auszumachen sind. Selbständigkeit scheint etwas zu sein, dessen Zeit abgelaufen ist.
Oder etwas, das einflussreichen Interessengruppen unwillkommen ist, weil sie mit denkenden und verantwortlich handelnden Bürgern verbunden ist. Wir sollten in diesem Zusammenhang dringend unterscheiden, zwischen Firmen, die in der Hand von Personen liegen, die namentlich bekannt sind und zwischen Aktiengesellschaften, deren wahre Aktionäre niemals in der Öffentlichkeit genannt werden.

Anders als bei Tieren, gibt es bei Menschen verschiedenste Möglichkeiten, sich zu organisieren und zu leben. Wir müssen uns mit unseren Nöten nicht unhinterfragt abfinden.
Solange die lebensnotwendigen Ressourcen für Normalbürger erschwinglich zugänglich sind, kann eigentlich einem gesunden Menschen mit zwei Füßen zum Laufen, zwei Armen zum Handeln und einem Kopf zum Überlegen nicht wirklich allzuviel passieren. Oder zumindest einer Gruppe von Menschen nicht, die sich zusammentun. Es gibt zahlreiche Beispiele von Kommunen, die über viele Jahre hinweg größte Unabhängigkeit von der sie umgebenden Wirtschaft erlangen, in dem sie die lebensnotwendigen Aufgaben wie Landwirtschaft zur Ernährung und Handwerk eigenverantwortlich regeln.
Inzwischen gibt es auch Modelle für Lebensgemeinschaften von alten Menschen, die sich gegenseitig stützen, um die Risiken der unterschiedlichen gesundheitlichen Entwicklung abzufedern und um unabhängiger von teuren Leistungen zu werden. Es ist ja auch kaum einzusehen, warum in einer Zeit, in der alte Menschen immer gesünder sind und länger leben, diese mit 60 Jahren in Rente gehen und fortan tätigkeitslos und einsam und angstvoll warten, bis das Geld ausgeht und sie die letzten Jahre der tatsächlichen Gebrechlichkeit ohne Pflege dahindarben müssen. Ob Sie oder ich in diesen Kommunen oder Modellgruppen glücklich würden, sei dahingestellt. Aber diese Beispiele zeigen, denke ich, ganz deutlich, dass Arbeitslosigkeit und Altersarmut in einem direkten Zusammenhang stehen mit mangelnder Verantwortung für das eigene Leben und Unselbständigkeit. Andersherum sind Selbständigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Kreativität zwingende Voraussetzung zur Gesundung des Gemeinwesens ebenso wie zur Überwindung individueller Not in schlechten Zeiten. Ich fasse es in folgender These zusammen:

Arbeitslosigkeit und Altersarmut sind in erster Linie das Resultat von schlechter Organisation, mangelnder Kreativität und mangelnder Eigenverantwortlichkeit der gesamten Gesellschaft. Durch Organisatorische Maßnahmen, Kreativität und Eigenverantwortlichkeit lassen sie sich auch bei reduziertem oder "negativem" Wirtschaftswachstum vermeiden.

Merken Sie es?: Dem eigenverantwortlichen Bürger erschließen sich Wege zur eigenen wirtschaftlichen Absicherung und zur Gesundung des Gemeinwesens. Eigenverantwortung und Kreativität sind der Schlüssel. Denken Sie einmal darüber nach! Diejenigen, die verallgemeinernd als "Das Kapital" bezeichnet werden, denken auch viel darüber nach. Aber vielleicht nicht in Ihrem Sinne und auch nicht im Sinne des Gemeinwesens. Sie sprechen auch über ihre Gedanken mit Politikern und Medienvertretern und bringen Zuckerbrot und Peitsche mit. Überlassen Sie die öffentliche Meinung nicht alleine diesen "Think Tanks". Vielleicht finden Sie Wege, etwas zu bewegen. In einer Welt, in der nur wenige wirklich eigenständig und gründlich denken, haben die wenigen, die es tun (und aussprechen), großes Gewicht.

Nächster Schritt: "Kapitalismus und Kommunismus"

Letzte Änderung: 22.08.2010
Ulrich Sommer