Gesetzmäßigkeiten

Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? (Lk 6,40)

Fast alle Regeln und Gesetzmäßigkeiten lassen sich folgenden Gruppen zuordnen:
o    Naturgesetze
o    Gesellschaftliche Vereinbarungen
o    Das individuelle Wertegefüge

  • Naturgesetze

    Als Naturgesetze sind hier nicht nur bekannten Gesetzmäßigkeiten der Physik und anderer Naturwissenschaften gemeint. Auch die Gesetzmäßigkeiten, die sich mit unseren wissenschaftlichen Methoden nicht erfassen lassen, wie beispielsweise psychologische Zusammenhänge oder transzendente Gesetzmäßigkeiten sind gemeint. Zu den Naturgesetzen zählen in diesem Sinne beispielsweise auch die Auswirkungen, die Handlungen und Bewusstsein auf den Zustand der Seele haben. Allerdings haben wir nur ein eingeschränktes Verständnis von den Gesetzmäßigkeiten, die oft als "metaphysisch" bezeichnet werden.

    Die Unterscheidung zwischen "Physik" und "Metaphysik" macht so gesehen keinen Sinn, denn die Grenzen der Wirklichkeit werden durch unsere spärliche Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht definiert. Sonst hätten wir die Nuklearphysik im Mittelalter auch als "Metaphysik" bezeichnen müssen, da sie damaligen Möglichkeiten der Forschung nicht zugänglich waren.

    Die Einhaltung von Naturgesetzen muss niemals überwacht werden, denn die Naturgesetze können "natürlicherweise" nicht umgangen werden. Mit dem Begriff "unnatürlich" oder "übernatürlich" bezeichnen wir lediglich Dinge, die unserer Vorstellung von der Natur nicht entsprechen. Im Sinne dieser Definition von Naturgesetzen ist etwas unnatürliches oder übernatürliches auf keinen Fall möglich. Wenn es möglich wäre, wäre es doch wieder natürlich.

    Leider gibt es keinen direkten Zugang zum Verständnis der Naturgesetze. Die Interpretation der eigenen Erfahrungen und die Überlieferung von Wissen helfen uns, die Welt zu verstehen. Der Vernunft ist nur ein verschwindend geringer Teil der Naturgesetze zugänglich. Eine Person oder die Gemeinschaft kann sich nicht vor Irrtümern über die Naturgesetze schützen. Auch über Generationen überlieferte Deutungen der Naturgesetze wie beispielsweise religiöse Inhalte, können fehlerhaft sein. Es gibt Gesetzmäßigkeiten, die wir sehr zuverlässig darstellen können und mit denen wir relativ präzise Vorgänge vorhersagen können (Feste Gegenstände mit hoher Dichte werden beispielsweise ohne Halt relativ zuverlässig nicht nach oben fallen, sondern nach unten). Gesetzmäßigkeiten, die außerhalb unserer kognitiven Wahrnehmung liegen und die sich wissenschaftlichen Methoden verschließen, können wir bestenfalls mit Unsicherheit beschreiben (Beispielsweise die Beschreibung der Kraft, die die Erde und das Leben hervorgebracht hat).

  • Gesellschaftliche Vereinbarungen

    Gesellschaftliche Vereinbarungen sind beispielsweise die Gesetze, die sich eine Gemeinschaft gibt wie eine Verfassung, ein Strafgesetzbuch oder das Handelsrecht.
    Gesellschaftliche Vereinbarungen sind ferner moralische Konventionen, Benimmregeln oder der Umgang zwischen verschiedenen sozialen Gruppen.
    Gesellschaftliche Vereinbarungen sind auch die tatsächliche Umsetzung, Maßnahmen zur Befolgung und zur Sanktionierung bei Missachtung von Gesetzen, Normen oder unterschwellige Erwartungen. Gesellschaftliche Vereinbarungen müssen nicht explizit dokumentiert sein. Es gibt auch faktische bzw. praktizierte Vereinbarungen, die im klaren Widerspruch zu in der selben Gesellschaft dokumentierten Regeln stehen.

    Gesellschaftliche Vereinbarungen gelten nur für die jeweilige Gesellschaft und nicht darüber hinaus. Wenn sie faktisch nicht berücksichtigt werden, kann ihre Bedeutung ins belanglose absinken. Ihre Bedeutung ist im Vergleich zu den Naturgesetzen sehr relativ.

    Gesellschaftliche Vereinbarungen können sich in geschwächten Gesellschaften auflösen oder ins kranke konvertieren, wie beispielsweise im Faschismus. Die Gültigkeit der Naturgesetze ist davon nicht betroffen. Die seelischen Folgen können für einen Gewalttäter vergleichbar sein, unabhängig davon, ob Gewalt in seinem sozialen Umfeld toleriert oder sogar gefördert wird, oder ob sie nicht geduldet wird. Die Psychologie der Systemik gibt Hinweise auf solche möglicherweise bestehenden Zusammenhänge. Systemiker berichten beispielsweise von Seelischen Schäden von Soldaten, die aus nicht aufgearbeiteten Schuldgefühlen resultieren. Solche Schäden sollen angeblich sogar über Generationen weitergereicht werden.

  • Das individuelle Wertegefüge

    Abgeleitet aus den individuellen Vorstellungen von den Naturgesetzen und aus den gesellschaftlichen Vereinbarungen entwickelt jeder Mensch sein eigenes Wertegefüge.

    Dieses Wertegefüge kann Leitlinien für das eigene Verhalten enthalten. Die Leitlinien für das eigene Verhalten können einer Sehnsucht nach einer schönen, lebenswerten Welt folgen und nach einem Ausgleich verschiedener Interessen streben, nach Gerechtigkeit. Sie können jedoch auch einem Gefühl des "zu kurz gekommen seins" folgend sich nach einer bevorzugten Versorgung der eigenen Person mit materiellen Gütern, Zuwendung, Einfluss, etc. orientieren.

    Das individuelle Wertegefüge beinhaltet in der Regel auch Maßstäbe, an denen das Verhalten anderer bemessen wird. Die Maßstäbe, an denen das Verhalten anderer bemessen wird, differieren in der Regel zu denen, an denen sich das eigene Verhalten orientiert. Das muss nicht bedeuten, dass von anderen "besseres" Verhalten erwartet wird. Manche Menschen sind gegenüber anderen Menschen eher toleranter, als sich selber gegenüber.

    Der Geltungsbereich des individuellen Wertegefüges erstreckt sich lediglich auf die jeweilige Person.

    Aus dem individuellen Wertegefüge kann daher keine gültige Handlungsanweisung an irgendeine andere Person abgeleitet werden.
    Der Vergleich des Verhaltens anderer Menschen mit dem eigenen Wertegefüge kann zur Auswahl von Freunden herangezogen werden ("Eine Person, die sich so und so verhält, habe ich gerne als Freund").
    Der Vergleich des Verhaltens anderer Menschen mit dem eigenen Wertegefüge kann auch zur Entscheidung für eine eigene Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten herangezogen werden.

    Viele Menschen beschäftigen sich leidenschaftlich mit der Bewertung anderer Menschen nach dem eigenen Wertegefüge. Sie verbringen viel Zeit damit, zu er-warten. Wer Er-wartungen an andere Menschen hat, sollte die Zeit zum Warten mitbringen. Er macht sein Glück davon abhängig, ob andere Menschen mit anderen Wertegefügen seinen Er-Wartungen entsprechen.

    Der eigenverantwortliche Mensch leitet aus der "Bewertung" anderer Menschen nach dem eigenen Wertegefüge nur eigene Verhaltensweisen ab und verschwendet wenig Emotionen an die andere Person. Erwartungen dienen ihm nur zur Prognose des Verhaltens anderer und er korrigiert seine Erwartungen in dem Moment, in dem er erkennt, dass die Erwartung bzw. Prognose nicht zutreffend war. Da man das eigene Verhalten (in Grenzen) selber bestimmen kann, ist der eigenverantwortliche Mensch sehr viel Handlungsfähiger, als Menschen, die Ihr Verhalten von anderen Menschen abhängig machen.
    Enttäuschungen akzeptiert er, so rasch es ihm seine Psyche ermöglicht, und blickt dann wieder nach vorne. Er setzt den Fokus auf sein eigenes Handeln.

    Unabhängig davon können sich mehrere Individuen im freundschaftlichen Austausch über ihre jeweiligen Wertegefüge austauschen, nach Gemeinsamkeiten suchen und über Differenzen streiten.

Warum ist die Unterscheidung dieser Kategorien hilfreich?

Das eingangs genannte Bibel-Zitat mit dem Splitter im Auge des anderen und dem Balken im eigenen Auge beschreibt eine typische Verhaltensweise, die den eigenen Weg unterbrechen kann und die Handlungsfähigkeit einschränken. Es geht in diesem Zusammenhang nicht um (Selbst-) Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit. Interessant ist auch weniger der Balken oder Splitter im eigenen Auge.
Entscheidend ist, dass Menschen viel Energie investieren, um andere Menschen nach Gesetzmäßigkeiten zu bewerten, die für sie keine Relevanz haben. Die Erregung über das Verhalten anderer ist vergebene "Liebesmühe", denn die Einhaltung von Naturgesetzen bedarf nicht unseres Einsatzes und unser eigenes Wertegefüge hat für eine andere Person keine Bedeutung. Die Nutzung gesellschaftlicher Konventionen hingegen obliegt uns selber. Wir sollten nicht erwarten, dass uns Gerechtigkeit widerfährt, sondern uns selber dafür einsetzen, Recht zu bekommen (und wir können selber gegenüber anderen gerecht sein, wenn es unserem Wertegefüge entspricht).

Wenn uns beispielsweise jemand anders etwas wegnimmt, dann können wir uns überlegen, ob und in welcher Form wir die gesellschaftlichen Konventionen nutzen können, um das Weggenommene wieder zu erlangen oder uns in Zukunft davor zu schützen. Die niedrigste "Eskalationsstufe" ist dabei natürlich das Gespräch mit dem anderen. In diesem Gespräch können wir zunächst ertasten, inwieweit der andere in seinem eigenen Wertegefüge Regeln hat, auf die wir uns beziehen können. wir können auch auf unsere Möglichkeit hinweisen, mit Hilfe gesellschaftlicher Einrichtungen einen Ausgleich herbeizuführen. Eine "moralische" Erregung über den "Gesetzesbruch" des anderen ist hingegen in der Regel kontraproduktiv, weil sie den anderen eventuell weder in seinem eigenen Wertebild erreicht, noch ihn mit einer faktischen Notwendigkeit zur Änderung seiner Handlungsweisen konfrontiert. Selbst der Hinweis auf gesellschaftliche Konventionen kann strategisch kontraproduktiv sein, wenn der andere dadurch in die Lage versetzt wird, im Vorfeld die gesellschaftlichen Institutionen zu umgehen. Vielleicht lacht er am Ende darüber, weil sein eigenes Wertegefüge das Recht des stärkeren betont.

Wer sich also vorrangig damit beschäftigt, ob andere Personen gewissen Gesetzen entsprechen oder nicht, macht sich von derem Verhalten abhängig.
Wer sich hingegen mit seinen eigenen Zielen und Interessen beschäftigt, gewinnt Freiheit und lebt selbstbestimmt. Die Naturgesetze lassen sich nutzen, um sich in der Welt besser zurecht zu finden. Die Konventionen lassen sich in einem halbwegs intakten Gemeinwesen nutzen, um Schädigungen abwenden (im Extremfall durch Anrufen einer Instanz wie einem Gericht). Das individuelle Wertegefüge dient als Gerüst für das eigene Handeln mit dem Ziel seelischer Gesundheit und konfliktarmen Lebens. Vielleicht war der "Balken im eigenen Auge" in der Bibel moralisierend als eigener "Fehler" gemeint. Man könnte den Balken aber auch als Symbol für die eigenen Handlungsmöglichkeiten deuten - also positiv. Sogesehen eröffnet einem die Beschäftigung mit dem "eigenen Balken" die eigenen Freiheitsgrade, die Selbstbestimmung und die Eigenverantwortlichkeit.

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Letzte Änderung: 22.08.2010
Ulrich Sommer