Die tragende Leichtigkeit des Seins

Von "Gut und Böse", vom Über-Ich, von Intuition und innerer Führung

Wir leben in einer Christlichen Kultur, in der gläubige Menschen an Gott glauben. Der Christliche Glaube ist monotheistisch, was heißt, dass es keine weiteren Götter gibt, an die ein Christ zu glauben bräuchte. Gott steht im Christlichen Glauben in jedem Fall für das Gute.

Gleichwohl werde ich immer wieder mit dem Bild konfrontiert, "Gut" und "Böse" sei ein sich gegenseitig bedingendes Gegensatzpaar wie Plus und Minus, Tag und Nacht, Frau und Mann. Über die Figur des "Satans" oder "Teufels" erhält "Das Böse" darin implizit einen göttlichen Status und über die angebliche Gleichwertigkeit von "Gut" und "Böse" erhält auch "Satan" subtil einen Gott ähnlichen Status. Öffentlich bekennen sich nur wenige dazu und dennoch spielt diese Haltung untergründig in unserer Kultur eine große Rolle.

Vor einiger Zeit erzählte mir ein Freund, dass er sich in einer Lebenssituation befände, in der er sich zu entscheiden hätten zwischen "dem Guten" und "dem Bösen".
Etwas weiter zurück liegt das Erlebnis einer Taufe, bei der die Paten schwören mussten, dem "Bösen" zu entsagen.
Irgendwie scheint es naheliegend, dem Bösen zu entsagen. Verblüfft hat mich jedoch die implizite Ehrerbietung dieser Figur gegenüber, deren Bedeutung mir nicht sehr verständlich ist.
In der katholischen Kirche gibt es den Begriff der "Erbsünde", welcher unterstellt, dass in jedem Menschen "Böses" von Geburt an ein fester Bestandteil ist. Auch Freud ging davon aus, dass Menschen ohne eine gewisse Anstrengung oder Führung eine Tendenz zum "Bösen" haben. Das "Über-Ich" stellt Freud als eine gewissermaßen innere Stimme dar, welche die erlernten externen Erwartungen und Konventionen an eine Person artikuliert und den vermeintlich von Grund auf erst einmal bösen Menschen kultiviert und leitet. Ohne diese verinnerlichten Erwartungen, die ursprünglich einmal von den Eltern erlernt werden, wäre ein Mensch demnach höchst gefährlich.

Was sollte "Das Böse" bieten können?

Natürlich besteht die prinzipielle Möglichkeit, sich durch Rücksichtslosigkeit scheinbare Vorteile zu erringen. Aber ein Mensch muss ja schon sehr durchtrieben sein, um dann noch die Wertschätzung seiner sozialen Umwelt zu erhalten. Er muss ferner ein gehöriges Maß an Energie darin investieren, einen solchen Zustand des Ungleichgewichts zu anderen Menschen aufrecht zu erhalten.
Vielfach beschrieben ist ferner eine scheinbar vorteilsbringende Verbindung zu "dem Bösen" als einer Art Gottheit. Es gibt vielfältige Erzählungen nach dem Muster von Goethes Faust. Das gemeinsame Thema ist die für Dienste verkaufte Seele.
Ausgehend von der Annahme, "das Böse" sei grundlegender Bestandteil der Psyche und somit natürlich und archaisch und der Mensch sei seinem tiefen Naturell durch Kultur und das "Über-Ich" entfremdet, wird vielfach daraus folgend angenommen, das Ausleben des zutiefst Animalischen (und somit "Bösen") bringe den Menschen sich selber näher und würde eine grundlegende Befriedigung bewirken. Diese Sichtweisen sind in unserer Kultur teils offen, teils subtil verankert und stellen kaum wahrgenommen eine Art parallel-Religion zum Christentum dar.

"Das Böse" als "Gegengott"?

Folgt man der Geschichte von Luzifer, welcher sich als einer der Erzengel gegen Gott auflehnt, wäre "Der Teufel" im Rang klar dem Gott untergeordnet. Dennoch macht das Bild vom (notwendigen) Gleichgewicht von "Gut und Böse" immer wieder die Runde, als handle es sich um sich gegenseitig bedingende Gegensätze wie den elektrischen Plus- und Minus-Pol, Tag und Nacht oder Mann und Frau. Mit Sicherheit ist beispielsweise der Tod eine notwendige Bedingung zum Leben. Ein wie auch immer geartetes "Böses" ist dies jedoch nicht. Wenn die Schöpfung ein Wunder ist, wie auch das Leben und im speziellen unser eigenes menschliches Leben ein unbeschreibliches und unfassbares Geschenk ist, so gibt es in diesem Leben vielleicht Höhepunkte der Kraft, der Gesundheit, eines kulturellen Ausdrucks und verschiedenes mehr. Naheliegender Weise gibt es dabei auch Zeiten der Schwäche, in denen diese Harmonie und Perfektion des Lebens eingeschränkt ist und die individuelle oder gemeinschaftliche Kraft nicht im vollen Maße zur Verfügung steht. Aber dieser Schwäche einen Gott zu widmen, welcher daran Freude hätte, das Leben, die Kraft und die Liebe zu schwächen, das scheint mir sehr konstruiert zu sein.

"Das Böse" als Idealisierung oder Fehlinterpretation von Missgeschicken, Kraftlosigkeit und Krankheit

Das Leben ist eine kaum nachvollziehbare Leistung eines bewusst nicht beherrschbaren Prozesses der Gleichgewichtssteuerung mit einer unüberschaubaren Vielzahl von Parametern. Zu einem kleinen Teil ist unser Bewusstsein in diesen Prozess involviert und kann ihn beeinflussen. Zeitweise leben wir im Fluss, die Balance gelingt uns gut und ohne Anstrengung. In Zeiten, in denen das Gleichgewicht hingegen gestört ist, erleben wir die Balance als Anstrengung, die uns soweit belasten kann, dass wir uns am liebsten aus der Gegenwart flüchten wollen. Dieses Erleben von Hoffnungslosigkeit oder Überanstrengung kann durchaus in eine Art Todessehnsucht oder Lebensfeindlichkeit münden. Diese Lebensfeindlichkeit kann sich gegen einen selber oder gegen andere Menschen oder Wesen richten. Diese Kraft kann sich steigern, nach dem immer mehr Dinge aus dem Gleichgewicht geraten. Auch hier sehe ich keinen Anlass, die Kraft als eigenständige zerstörerische "göttliche" Kraft zu verstehen, sondern betrachte sie eher als Schwäche oder als reduzierte Lebenskraft. Aus dieser Sichtweise heraus gibt es auch keine Sehnsucht nach "Bösem", sondern immer einen Wunsch nach Gesundheit, Kraft und Harmonie, der lediglich durch das Erleben von Krisen in Hilflosigkeit oder Aggression umschlagen kann. Neid, Eifersucht, Missgunst, Stolz oder andere, oft als "Wurzelsünden" bezeichnete Verhaltensweisen können sogesehen als ursprünglich lebensbejahender Impuls eines Menschen verstanden werden, der sein Selbstvertrauen und die Gelassenheit verloren hat und sich aus der Substanz holen will, was ihm an Reserven fehlt.

Leben im Fluss

Greifen wir die Idee vom "animalischen Leben" noch einmal auf: Tiere leben im Gleichgewicht (wenn sie gesund sind) und mit Sicherheit animalisch. Ausufernden Lebensstil, Exzesse oder überbordernde Agression kann man bei Tieren selten beobachten. Im Gegenteil haben Tiere einen sehr feinen Instinkt für ihre Bedürfnisse und aus menschlicher Sicht könnte man vielfach sagen, Tiere lebten "diszipliniert", was aber im Sinne des Wortes sicher nicht der Fall ist. Auch Raubtiere leben abgesehen davon, dass sie andere Tiere reißen, nicht exzessiv.
Auch beim Menschen glaube ich nicht daran, dass es eine Art exzessiven Erlebens gibt, welches mehr Glück verspricht oder der Natur des Menschen näher kommt. Meistens sind Exzesse mit der Schädigung eines Teiles der Persönlichkeit verbunden. Bei Alkohol- oder Drogen-Exzessen ist dies offensichtlich und neben der Schädigung der Organe schneidet sich der Benommene in seiner Wahrnehmung von einem Teil der Wirklichkeit ab. Aber auch bei sexuellen Exzessen kann eine Beziehung zu den Partnern kaum aufgebaut werden, wenn die eigene Bedürftigkeit das Handeln dominiert. Und doch ist jeder intime Kontakt eine begonnene Beziehung, deren Ende fast immer Verletzungen hinterlässt, wenn aufgrund der Rasanz der Beziehungsanbahnung kein Gleichgewicht zwischen den bedürftigen Partnern hergestellt wurde.

Auf der anderen Seite sind einem sensiblen Menschen, der verantwortungsvoll mit seinen Mitmenschen und sich selber umgeht und der wach und aktiv durch das Leben geht, in der Regel viele Glücksmomente vergönnt. Lebendigkeit, Kraft und Glück lassen sich nicht herbeizerren. Man kann ihnen aber ein Nest bauen, indem man sensibel mit sich selber und der Umwelt umgeht, sich selber und die Umwelt erforscht, Lernbegierig ist und die Präsenz im "Hier und Jetzt" durch Meditation stärkt. Diese Präsenz und Wahrnehmung stärkt den Tiefen Zugang zur Wirklichkeit und zu der mächtigen Intuition, die nur bei einem gelassenen Menschen den Weg mit einer Intelligenz zu weisen vermag, welche dem reinen Verstand oder einer abstrakten Moral nicht zugänglich ist.
Ich bin überzeugt, dass diese Haltung der Gelassenheit, Präsenz, Verantwortung und Liebe keinen Gegensatz zur archaischen Natur des Menschen darstellt.

"Sich gehen lassen" und Verantwortung

Die Konsequenz des bislang gesagten will ich in folgender These zusammenfassen:
Gesundheit, Kraft, Fluss und Lebensfreude stellen keinerlei Gegensatz zum archaischen Naturell von Menschen (und Tieren) dar. Freude und Liebe lassen sich teilen, ohne weniger zu werden.
Wer wachsam, aufmerksam, sensibel und (selbst-)bewusst in der Situation verweilt, kann sich vollkommen gehen lassen und wird keinen Schaden stiften oder erleiden, weil die innere Führung Zugang zu einer weiten Wahrnehmung der Situation, dem eigenen Befinden, dem Befinden der nächsten Menschen und zur Intuition hat. Eine Entscheidung zwischen "Gut und Böse" steht überhaupt nicht zur Debatte. Das Leben im Fluss und in Erfüllung vereint das archaische Naturell mit dem Wohlergehen der Person und der nahestehenden Personen, oder der anderweitig mit der Person in Verbindung stehenden Personen.
Leitlinien, wie beispielsweise die Zehn Gebote können für Menschen, die diesen Zugang zu einer Umfassenden Wachsamkeit nicht haben, eine Hilfe darstellen, um typische Entgleisungen zu vermeiden. Für den wachsamen und präsent lebenden Menschen steht die Liebe im vordergrund. Regeln haben für ihn eine geringere Bedeutung, weil ihn die Intuition relativ präzise leitet.

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Letzte Änderung: 22.08.2010
Ulrich Sommer